Christoph Tannert I
Kartographie des
Ungesehenen
Claudia Grabarse ist zuallererst Zeichnerin,
wenngleich es in ihrer gegenwärtigen Produktion
auch eine Anzahl malerischer farbiger Blätter
und einige kleinformatige Werke in Acryl auf
Leinwand gibt. Im Zeichnen hat Claudia Grabarse
eine intuitive Fortspinntechnik entwickelt,
die reich ist an melodischen Bögen, wie an
ätherischer Transparenz. Meistens läßt sich die
Künstlerin von der Linie führen,
die sie dann in feinen Gespinsten in die Bildlabyrinthe
hineinzieht, gleichzeitig aber auch einen
Prozess ständigen geduldigen Hineinlauschens in
den eigenen Seelenkosmos animiert.
Es ist ein Wechsel von zeichenerischem Eigensinn
und bewegtem/bewegendem Gestus.
Zwischen der Künstlerin und ihren Zeichnungen
existiert eine gegenseitige Verflechtung,
die natürlicherweise nicht halt macht
vor druckgrafischen Weiterentwicklungen und den
Ausuferungen des Lineaments in den Radierungen.
Wenn Claudia Grabarse zeichnet, ent-
wickelt sich eine geflochtene Schnur, deren
Einzelfäden am offenen Ende in verschiedene
Richtungen weisen - auf Identität,
Erinnerung und Wiedererkennung.
Zwischen Stille und Fließen liegen Nichts
und Etwas.
Vergleichbar einem Rhizom (um einen Begriff
von Gilles Deleuze und Felix Guttari zu
verwenden) (1) ist eineZeichnung Claudia Grabarses
ein offenes Feld, in dem es nach
Segmentierungslinien territorialisiert und
bezeichnet ist, bzw. in Deterritorialisierungs-
linien flieht. Kommen farbige Höhungen
und Aufmischungen hinzu, mündet das Verhältnis
der Linie zur Fläche und den gezeichneten
Labyrinthräumen in merkwürdigen Flüsterarien,
die von Ordnung in der Verschränkung
mit Chaos künden.
Im Tröpfeln, Kleckern, in Rinnsalen und
Farbkatarakten bildet sich ein sich selbst
organisierendes System, in das nur unser Auge
einzugreifen und zu figurieren vermag.
Dabei gilt auch in diesem Fall: Das Beobachtete
ist nie unabhängig vom Beobachter.
Zwischen der Andeutung von Abbildhaftigkeit
und reiner Struktur entfaltet sich ein Reich
des Komplexen in wundersamen Ungleichgewichtigkeiten,
die mal den Pulsschlag der
Künstlerin sichtbar werden lassen, mal
sich ihm überlegen fühlen in einem Maßstab, der
für ein zweites Sehen gilt, das nicht
über die Augen funktioniert und fern jeglichem
Wiedergabegehabens als geistiger, ja modellhafter
Aufbruch zu verstehen ist. In ihrer nach
allen Seiten wuchernden All-Over-Struktur
der Zeichnungenund farbigen Blätter werden,
gut sichtbar, (Begriffs-)Punkte zu komplexen
vereint aber auch wieder dissoziiert.
Dabei berühren die Punkte unterschiedliche
Themengebiete (Gesichte, Versteck, Instabilität)
und produzieren damit auch eine Art Karte
für Entdeckungen unbekannter Territorien. Das
Rhizom verweist im Prinzip der Kartographie
hier auch auf sich selbst als Teil des Begriffsrasters.
Wer sich aufmacht, dem Lauf der Grabarsischen
Linien zu folgen, muss sich darauf gefasst
machen, eine Karte zu lesen, in der allerdings
(erhöhter Schwierigkeitsgrad!) verschiedene
Codierungsarten miteinander verknüpft
sind. Wird etwas zur Landschaft, dann kann das gut
etwas Traumhaftem entsprechen, das aus dem
Übergang geboren wird und zwischen sanften
Umfassungslinien, krakeligen Linienkrümmungen
und Feldern linearer Überlagerungen schwingt,
von Rhythmus zu Rhythmus, Ton zu Ton, zerwühlter
Schwere zu hauchzarter Lavierung.
Deleuze/Guattari: Rhizom.- Merve-Verlag.- Berlin
1977


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