Christoph Tannert I
Zeichnerische Primärinformationen
Ihre Blätter sehen aus wie purer Energieübertrag. Mal sind es
Punkte, die ihr Maximum
in Partikelhaufen finden (wie in points),
dann wieder kratzig kalligraphisch über's
Papier geführte Strichlagen oder massenreiche,
nach Prinzipien des Zufalls ausfließende
Tuschelachen. Sporadisch trägt die Künstlerin
ihr ästhetisches Fusionsmaterial
zusammen, legt Pausen ein, wartet ab, hört
in die Zeit. Hat ein Teil eines Blattes
eine gewisse formale Dichte erreicht, stemmt er
sich dem Arbeitsprozeß entgegen und
es entsteht eine visuelle Stoßfront, die das
Modellieren andersgearteter Mikrostrukturen
in nachbarschaftlicher Gegenüberstellung erzwingt,
im Zuge dominanter Interventionen
auch häufig Überlappungen hervorruft.
In stetem Pendeln zwischen Nichts und Etwas konfiguriert
sich ein System, das
freilich eine Information beinhaltet, die mit den
Mitteln des Systems nicht vollständig
beschrieben bzw. bezeichnet werden kann und damit
zu einem ständigen Antrieb
zu weiteren bildkünstlerischen Exkursionen wird.
Zwischen 2003 und 2005 entstanden, bilden diese Blätter,
die ihr Innenleben den
Wechselwirkungen zwischen Fluids und aufgebrochenen
Grenzflächenverhältnissen
verdanken, eine Werkgruppe. Zum Einsatz kamen Tusche,
Acryl- und Aquarellfarben,
Rötel, Kreide, Gel- und Eddingstifte auf handgeschöpftem
Papier. Die zeichnerischen
Primärinformationen tragen entweder keine Titel
oder laben sich an der Inbeziehung-
setzung zur spirituellen Ebene des Ichlos-Seins.
Ihre Schleichwege heißen
fluss, golden,
glow oder dust.
Wer seine Nahbereichssensoren scharfstellt, kann
das Strömungsverhalten von
Formen erkennen und die Resultate lebendiger Elementeanimation.
Man sieht,
wie sich mit jeder Formulierung das Feld der Wahrnehmung
ändert und damit neue
Aktionen inspiriert und dynamische Bedingungen kreiert
werden.
Das Auge entmachtet das Chaos und faßt zusammen.
Was an Gestischem, der
Bewegung der Hand und zufälligen Pinseltropfen
übrig bleibt, fügt sich, wenngleich
sperrig, zu einem Dichtegrad der Komposition, die
wesentlich nicht rein durch
wiedererkennendes bzw. bloß sehendes Sehen,
sondern durch aktives strukturelles
Sehen des Betrachters vollendet wird.
Einige Blätter sind vom Charakter her malerisch geprägt, andere
Blätter, etwa
Schlüsselblume,
Pilz und Gnom oder die Radierungen aus
der Serie Meditation
leben aus der Musikalität der Linie und nur
teilweise aus den gepixelten
Materieschwaden. Und dann gibt es natürlich noch jenes Feld des Dazwischen,
auf dem die menschliche Figur auftaucht und, take
a walk on the wild side, sich
sogleich davonmacht, weg aus den einengenden Maßverhältnissen
des Irdischen.
So wie Claudia Grabarse im Glauben an die Spontaneität
und Ehrlichkeit der écriture
automatique ständig
vom Nichts in die Fülle steuert, vom Unkonkreten ins Konkrete ins
Vor-Bewußte, macht sie uns vertraut mit emotionalen
Informationen, die deutlich
existentiell geerdet sind. Vom weltkünstlerischen
Zuckerpop der neuen Sampling-
Spezialisten in ihrer gummiartigen Nachgiebigkeit
ist sie damit verständlicherweise
meilenweit entfernt.


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