Claudia Grabarse           I         Zeichnen ist wie lesen

                                               

Wenn im Dunkel eines eiserngrauen Novembertages die Schauer vor den

Fenstern vorbeikratzen, ist es ein wunderbares Gefühl, unter einer

nicht neonlichtigen einfachen Glühbirne direkt über ein Blatt Papier gebeugt

zu verfolgen, wie die Tuscheschwaden und Pinselzeichen miteinander ein

Spiel beginnen.

Das Besondere dieses Gefühls ist eine zweite, innere Lampe, ein das Innere

des Körpers aushellendes Licht, ein Licht der Aufmerksamkeit,

das wie der Spot im Flugzeug oder Bus einen intimen Raum eröffnet,

der nur einem Menschen gehört. Da ist eine Stille und etwas

ganz und gar Unteilbares.

 

Dieser Raum, der sich da bildet, ist deshalb mit keinem anderen Menschen teilbar,

weil niemand anderes im gleichen Augenblick das Gleiche erleben würde.

Selbst ein vorgelesenes Buch läßt zwei Menschen im Hören in eine ihnen

selbst unbekannte und sehr ungleiche Wirklichkeit verschwinden.

Die Bilder beginnen ihr Eigenleben und ein aufmerksamer Geist folgt ihnen.

Es beginnt damit, daß sich ein Punktschwaden bildet, ein Gekritzel, etwas,

das in seiner Form so noch nicht da war, Flecken, die sich ausdehnen.

Den Eigengestus der Formen, die nicht auf Gegenständlichkeit verweisen,

in Sprache zu übersetzen ist fast unmöglich.

Es geht nur assoziativ, so wie bei Musik, nur von der Wirkung her.

Flecken, Punkthaufen und Striche besitzen einen bestimmten Grad von Intensität,

der von der Lebendigkeit des Erlebens herrührt. Ein intellektuell vorhergewußter

Strich ist oft weit weniger erregend als ein simpler Tuschefleck, weil die Form

schön wird durch die Genauigkeit des Unerwarteten.

Dynamik und Intensität sind nicht wirklich imitierbar.

 

Ein Musiker, der vollkommen in seiner Musik verschwunden ist, weiß oft hinterher

gar nicht so genau, was er gespielt hat, die Musik reißt mit, Klänge bilden sich

in seltsamen Tonlagen. Die Spuren einer dieser ähnlichen Erregung

bilden sich auf dem Papier ab.

Sternenpunkte, grauenhafte Zartheiten, ein Aufsplittern, ein Zerfetzen,

ein weicher Übergang in den zerfließenden breiigen Nichtmehrfarben.

Manchmal ist es die Vereinzeltheit der Flecken wie über einem Springbrunnen:

kleine, sich kurz bildende seifenblasenartigen Vollkommenheiten.

Modderpfützen, Risse, kragartige Substanzen beginnen eine, dem Ähnlichkeitsprinzip

folgende Dynamik auszuprägen, die der Erfahrung des Augenblicks entspricht.

Die Formen sind schon tausendmal dagewesen. Es ist nichts neues.

Wenn es das Motiv nicht ist, denn die Motive des Abgebildeten ähneln und

gleichen sich zu stark, muß es etwas anderes sein, das die Berührung ausmacht.

 

Es ist ein sich hinein treiben lassen in das direkte Erleben. Es ist genaues und

gleichzeitiges Erfahren. Und es ist ein bißchen so wie in den Regen hineinhören,

in das Donnern des Windes und die Leichtigkeit der Stille danach.

Die Tiefe ist in dem Augenblick, in der Intensität des Erlebens, in der gespannten

Beobachtung der entstehenden Komposition, im Spiel der Leerheiten und der Fülle,

im dynamischen Tanz der Elemente einer Zeichnung und in ihrer seltsamen

Existenz als Spiegel.

 

Sosehr die Formen zufällig wirken, sosehr sind sie auch gespiegelte geistige Vorgänge.

Sie werden es durch das Hineinlesen eines emotional gefärbten Blickes, ähnlich Fotos

von Landschaften, die durch das Auge des Fotografengeistes Baumabbildung

lesen lassen.

 

Der Urgrund des unberechneten Erfahrens ist tiefer, besser, wilder, stürmischer und

viel tausendmal ruhiger als ein rational erzeugtes und vorhergewußtes Ergebnis.