Claudia Grabarse           I         Vordergründe, Hintergründe

 

Ein Betrachter, der abstrakte Bilder vor sich hat, sucht als erstes nach einer Lesart.

Was ist der Gegenstand? Was ist der Vordergrund, der Hintergrund, das Zentrum?

 

Wenn kein Gegenstand erkennbar ist, sind noch Harmonie, Disharmonie,

Spannung (also die Komposition) und Ton, Klang, Schwingung, Klangfarbe,

Stimmung da.

 

Ein Maler hat etwas auf einen leeren Grund, ein meist weißes Papier

gemalt und sobald dieser Grund noch sichtbar bleibt, erscheint das

was gemalt wurde dem Bewußtsein als erstes als feste Materie. Der Tuschefleck

ist materiell vor einem imaginären weniger dicht erscheinenden Hintergrund.

Das ganze funktioniert auch ohne Illusionismus: ein Fleck ist ein Hauptdarsteller,

der vom Betrachter aus vorn vor einem leeren Grund steht.

 

Der Vorgang, der unmittelbar danach einsetzt ist, daß der Betrachter anfängt

zu assoziieren. Flecken, Strukturen, Punkte werden als erstes mit Erinnerungen

oder Gedanken zu Erinnerungen in Verbindung gebracht. Sie regen die Phantasie an:

was könnte es sein, was da dargestellt ist? Woran erinnert es mich?

 

Wir haben ein Jahrhundert Abstraktion vor der Natur hinter uns und natürlich

werden Pinselstriche in abstrakten Bildern auch sofort auch als Abstraktionen von

etwas, einer Landschaft, einer Figur etc. gelesen.

Das ist etwas, was keiner verhindern kann. Es ist eine Programmierung des Gehirns,

in etwas Unbekanntem etwas Bekanntes erkennen und lesen zu wollen.

 

Das Kleine da ist eine Landschaft...zu der gehören folgende Objekte...

bis zum Horizont...dahinter kommt der Himmel und dann Wolken...das da ist

Gras und das sieht aus wie ein Reiter...

 

Das Merkwürdige ist, das diese Lesart wechseln kann. Wenn das Bewußtsein

wiederum die Wolke fixiert, ordnen sich alle anderen Objekte dem unter und

der Horizont verändert sich.

 

Obwohl jede Dreidimensionalität auf der Fläche Illusion ist, besitzen die konkreten

Strukturen, die wirklich auf dem Papier zu sehen sind (Flecken, Punkte, Striche)

eine gewisse Dimensionslosigkeit. Ihre Größe wird erst durch Vergleichbarkeit

festgelegt.

 

Sobald ich diesen imaginären Raum mit der bewußten Assoziation Hintergrund -

Vordergrund belege, nehme ich mir und dem Betrachter die Arbeit ab,

genau zu beobachten, was ist es denn jetzt eigentlich: materiell oder immateriell?

Und wo ist die Grenze?

 

Mit einem konkreten Objekt ist diese Frage sofort geklärt: Ein Haus gibt sofort

eine Größendimension vor, der sich alle anderen Formen unterordnen. Die Flecken

werden zu See, Gras, Wolke, Dreck um das Haus herum.

 

Dieses Bild hat eine andere Wirklichkeit als eines, in dem der Betrachter sich und

seinen Identifizierungen in Frage stellt.

 

Normalerweise ist es so, daß es eine klare Trennung gibt, zwischen dem was ist

und dem was nicht ist: Linien teilen oft Vordergrund und Hintergrund.

 

Die Frage ist: was passiert in den Zwischenzuständen?

 

Was ist, wenn es diese klare Linie nicht gibt, weil sie gar nicht gewollt ist,

wenn es gar keinen Hintergrund oder Vordergrund geben soll, sondern

die Tatsache, daß es dem Bewußtsein so erscheint, das wichtige ist?

 

Claudia Grabarse