Claudia Grabarse I
Der Raum des Sehens
  Zu
den Bildern der Ausstellung Blaue Serie
Es gibt kein Bilderlebnis ohne den Wahrnehmenden, die Wahrnehmende,
einem Bewußtsein, das aus einem Bedürfnis
nach Tiefe und Innerlichkeit dem schnellen
Blick widersteht und sich auf einen Vorgang
tieferen Sehens einläßt.
Farben verhalten sich ähnlich wie Klänge
in der Musik.
Die Klangfarbe wird vom Zusammenklang der einzelnen
Töne bestimmt,
ganz unabhängig davon, daß es dieselbe
Farbe sein kann, derselbe Ton,
der mit zwei anderen eine Verbindungen eingeht.
Ein sehr kaltes Türkis kann im Zusammenklang
mit anderen Tönen warm
bis heiß wirken, so wie die Töne
musikalisch als Einzelton vollkommen
anders klingen als in einem
Accord.
Und dann passiert noch etwas merkwürdiges, anders
als in der Musik,
in der die Töne fortfliegen und man sich
die Aufnahme nocheinmal neu
anhören müßte: die Farben
selbst verändern sich mit der Zeit
und Intensität des Betrachtens, sie fangen
an zu schwingen. Ein Betrachter
könnte wahrnehmen, wie seine Farbwahrnehmung
am Anfang aussah und
versuchen sie in ihrer Veränderung zu
beschreiben.
Da ist zuerst die Farbe, die derjenigen entspricht,
die in der Tube, dem Gefäß war.
Dann erscheinen die Resonanzen zu den Umgebungsfarben
und es setzt eine
merkwürdige Veränderung ein: die
Farben beginnen eine Eigenleben im
Bewußtsein desjenigen/derjenigen, der
schaut.
Nichts ist mehr wie vorher.
Vollkommen klare Töne können plötzlich
verschleiert wirken, aus Braun wird Rot,
es bilden sich soetwas wie Nebel oder gummiartig
wirkende Festigkeiten.
Einige Farben treten nach vorne und wirken
wie 40cm vor der Bildfläche,
andere treten zurück, wobei sich dieser Vorgang auf
einen fokussierten
Farbbereich bezieht. Fokussiert sich der Blick
vom Grün zum Violettbereich
zum Beispiel, können die gleichen Farben,
die eben noch vorn waren
nach hinten treten.
Aus den reinen Farbnuancen bildet sich soetwas
wie eine materielle
Durchlässigkeitsstufe:
fest, flüssig, gasförmig und das ohne,
daß sie konkreten
Objekten zugeordnet wären.
Sind eindeutig zwei Farbflächen gegeneinandergespannt,
kommt es häufig dazu,
daß die eine Fläche mit der Besetzung
Wasser belegt wird, während die andere eher
Himmel zugeordnet wird und diese materielle
Interpretation, Belegung eines
Farbraumes mit einer materiellen Dichte ist
wechselnd.
Das Bewußtsein kann sich selbst wahrnehmen,
wie es feste, flüssige oder
gasförmige Wahrnehmungen hat. Je nach
der Klangschwingung auf die sich
das Bewußtsein einläßt,
öffnen oder schließen sich
Raumtiefen, wird dichtere oder weniger dichte
Materialität erfahren.
Konkrete, in den Vordergrund gemalte Objekte
zerstören den Prozeß der
Untersuchung der eigenen Wahrnehmung. Dann
erscheint das Bekannte:
Vordergrund fest, Hintergrund gasförmig
und weit wie Himmel.
Ideal wäre ein Betrachter, der sich mindestens
zwanzig Minuten Zeit nimmt,
um ein Bild zu betrachten. Der Vorgang, der
dann stattfinden könnte,
ist ein Vorgang, der rein an die Wahrnehmung
des Bewußtseins von sich selbst
gekoppelt ist. Weder das Bild ändert
sich in diesem Zeitraum noch die
körperliche Grundsituation des Betrachters.
Er muß weder weiter weg
noch näher ans Bild gehen. Das Bild kann
wie ein Ausschnitt aus einer
Gegebenheit wirken, die einem Blick durch ein
Zugfenster gleicht.
Wenn dem Raum des Sehens im Bewußtsein
Platz gegeben wird, kann er sich
so sehr weiten, daß die Wahrnehmung der
Begrenztheit eines Bildraumes aufhört,
stattdessen nimmt die Wahrnehmung des Farbraumes
so viel Bewußtseinsraum ein,
daß alle anderen Inhalte
zurücktreten.
Dieser Raum, der sich dann bildet, ist vergleichbar
mit einem Meer.
Es ist weder so, daß das Bewußtsein
diesen großen Raum sinnlich ganz erfassen kann,
noch kann es seine Tiefe ausloten, noch ist es möglich,
über das Erfassen
von konkreten Inhalten diesen merkwürdigen
Raum zu erfahren.
Vergleichbar ist die Frage: wieviel Wasser
ist noch sinnlich wahrnehmbar und
ab wann geht die Wahrnehmnung eher zu einer
Abstraktion über?
Es scheint konkrete Schwellen zu geben, ab
wann und wie dieser Raum erfahren wird.
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