Claudia Grabarse          I         Der defokussierte Blick



Es geht mir darum, darzustellen, wie es möglich ist, den Geist wieder zu leeren und einzuladen,

diesen Prozeß der Wahrnehmung selbst zu untersuchen und sich darauf einzulassen.

 

Vom Cafehausfenster aus habe ich einen Vogelschwarm beobachtet...von Weitem sahen sie

wie eine Kugel aus, die sich bewegt und beim näherkommen waren alles einzelne Objekte und

die Illusion der Gesamtform hörte auf.

Obwohl heute jeder weiß, daß optische Erscheinung aus mehreren einzelnen Punkten

zusammengesetzt sein können, suchen das Auge und der Geist immer den Zusammenhang,

das inhaltlich übergreifende...also man sieht nicht die Vielzahl von Einzelformen, Einzelblättern,

sondern den Baum.



Es scheint einen natürlichen Widerstand des Betrachters dagegen zu geben, die eigentliche

Leerheit zu erfahren und nicht die Gesamtform und deren Botschaft zu suchen.



Wenn man einen Baum anschaut und beobachtet, wie sich das eigene Sehen verhält, kann

man feststellen, daß die Wahrnehmung dazu tendiert, von einem fokussierten Zentrum zum

nächsten zu wandern.

Man kann die Umrißformen wahrnehmen, die Farbe der Blätter sowohl als Gesamtfarbe

als auch als Gesamtheit von Farbabstufungen. Man kann man den Baum sowohl als gefüllten

Raum gegenüber der Leere sehen als auch als vom Wind bewegtes Etwas. Wenn man nun

alle Blätter gleichzeitig wahrnehmen sollte, wäre man vollständig überfordert, weil der Blick

von einem Detail zum nächsten wandert und in dem Augenblick indem man den nächsten Ast

betrachtet, hat man schon wieder den Fokus für den Ast darunter verloren. Eine andere Art

von Wahrnehmung hat man, wenn man die Bewegung der Blätter durch den Wind verfolgt.

Sie schwingen verschieden heftig und in diesen Schwingungen entsteht so etwas wie ein

Rhythmus, der die Blätter des Baumes von Weitem wie vom Wind bewegte Wellen aussehen

läßt. Währenddessen kann man noch den Wind zwischen den Blättern spüren und der Blick

ist defokussiert.



Das Zentrum ist nicht fixiert, sondern es gibt mehrere Zentren bzw. ein aus vielen

gleichzeitigen Wahrnehmungen bestehendes Zentrum.



Dieser Blick erlaubt es nun wieder, die Wahrnehmung noch weiter auszuweiten auf so etwas

ungegenständliches wie den Himmel.



Ein wolkenloser Himmel hat keine erfaßbare Tiefe (weil es keine Vergleichsmöglichkeit gibt),

aber seine Tiefe ist erfahrbar.

Die Tiefe des Himmels ist auch nicht im Vergleich zu einer Wolke erfahrbar, denn auch die

Wolke erweist sich bei näherem hinsehen als ein in seiner Ausdehnung nicht erfahrbares

Objekt. Wolken ähneln sich in ihren zufällig entstandenen Formen wie Mandelbrotmengen.

Man kann nicht genau sagen, ob eine Wolke weiter entfernt oder einfach nur kleiner ist.

Schwierig wird es ab einem gewissen Näherungsabstand - dann zerfällt die Wahrnehmung

der Gesamtheit und man steht direkt vor einer Nebelwand.



Was aber macht die Wahrnehmung einer optisch nicht erfaßbaren Tiefe wie der des Himmels

möglich? Wir verlieren ab einer gewissen Größendimension die Vorstellung von Vergleichbarkeit...

es funktioniert nicht, alle Grashalme einer Wiese gleichzeitig in ihrer konkreten augenblicklichen

Form zu beobachten. Wenn ich es nun verrückter Weise trotzdem versuchen würde, sowohl die

einzelne Gestalt  jedes Grashalms als auch die Vielzahl der Grashalme wahrzunehmen entsteht

eine andere Art der Annäherung.

 

Die Wahrnehmung addiert alles zu einem Schwebezustand, den man als solches wiederum

nicht erfassen (also in seiner Grenze fassen), sondern nur als Schwebe wahrnehmen kann.

Das analytische Denken geht von einem zum nächsten. Ohne Fokussierung auf einzelnes

wird es leer. Der Blick schweift über die Wiese. Ein nichtschweifender Blick kann einen

Ausschnitt der Wiese erfassen, aber dieser Ausschnitt ist begrenzt.




Es ist wirklich überall möglich, daß das Bewußtsein seinen eigenen Wahrnehmungsvorgang

betrachtet und dabei vom Stadium des reinen Beobachters, zum Betrachten selbst wird,

sich selbst vergißt und in die Betrachtung einsinkt...in diese Doppeltheit von Objekt und

Leere, die dann zu einem eins wird. Alle Wertungen, Deutungen und Denkvorgänge sind

gestoppt.


Voneinander abgegrenzte Objekte scheinen in einer Unschärferelation zueinander zu stehen

wie der Übergang von einem gerade noch als Wolke zu erkennenden Gebilde und dem Nebel

beim sich nähern. Eigentlich sinkt das Betrachten immer mehr nach innen in den Betrachter

ein, weil das Objekt der Betrachtung sich auflöst.



Denken kann nur an der Grenze stattfinden. Das ist eine Wolke, das ist keine Wolke.

Das ist Nebel. (Oder es findet in der Aufzählung nacheinander stattfindender Ereignisse

statt: erst wars so, dann so, dann... )



Im Unschärfebereich dazwischen in dem die Konkretisierung, der Fokus nicht mehr

wahrnehmbar ist, kann Aufmerksamkeit ohne konkreten Gegenstand anwesend sein.

Während der Betrachtung des Himmels oder der Wolke entstehen Vorstellungsbilder,

die nicht aufrecht zu erhalten sind, wenn der Beobachter wahrnimmt, daß sein Blick und

seine Vorstellung nichts mehr zum Festhalten findet.

Durch die gleichzeitige Betrachtung eines Astes und der Leere daneben, darum, darüber,

der Leere der Straße im Kontrast dazu, der riesigen Leere über den Häusern und des

wiederum gleichzeitigen Erfassens des Materiellen des Astes entsteht eine Unschärfe der

Vorstellung, die, wenn man in ihr verweilt und nicht zum nächsten Gegenstand abschweift

und immer noch alles gleichzeitig im Bewußtsein hat, die Leerheit des Astes erfahrbar macht.



Der Baum ist immer noch da. Aber was nicht mehr da ist, ist eine Vorstellung von ihm.

Der Verstand wurde leer. Wenn klar ist, daß in der Abbildung viele einzelne Blicke, viele

verschiedene Fokusse (wie Edward Hopper festgestellt hat) zu einem als Gesamtheit

erscheinenden Bild zusammengesetzt werden, die gleichzeitige Wahrnehmung aller Blicke

den Gegenstand aber nur noch unscharf erscheinen läßt, ist klar, daß unser Wahrnehmungs-

vermögen nicht in der Lage ist, alle Details gleichzeitig ganz zu erfassen. Aber während und

durch die Intensität der Bemühung, entsteht so etwas wie eine andere Art von Wahrnehmung

und der Blick hat sich geleert.